Fragen zur Migration in Europa (Teil 1)
Aus Anlass der Vorstellung des EEAG Reports 2015 über die europäische Industrie diskutierten die Professoren Hans-Werner Sinn und Jan-Egbert Sturm (beide Mitglieder der European Economic Advisory Group at CESifo und Mitautoren der Studie) über ökonomische Aspekte der Migration in Europa. Im Zentrum standen Deutschland und die Schweiz. Bei allen Unterschieden stehen beide Länder dabei auch vor ganz ähnlichen Problemen.
Die Freizügigkeit zählt in der EU zu den Grundsätzen, an denen nicht gerüttelt wird. Doch damit die ökonomische Erkenntnis, dass Migration zu Wohlfahrtsgewinnen führt, sich in der Realität auch einstellt, muss u.a. eine Bedingung erfüllt sein: es braucht einen liberalen Arbeitsmarkt. Gesetzlich verankerte Minimallöhne und andere Massnahmen, die eine flexible Lohnbildung verhindern, sind mit Wohlfahrtsgewinnen durch eine freie Migration unvereinbar. Und das ist eines der Probleme in Deutschland. Unruhe wie im AmeisenhaufenSeit der Einführung der Freizügigkeitsrichtlinie der EU im Jahr 2004 hat eine Völkerwanderung in Europa stattgefunden, im Vergleich zu der – so Prof. Sinn – die Wanderungen im vierten bis sechsten Jahrhundert n.Ch. „nur ein Klacks“ gewesen seien.
So wanderten 2012 3,4 Mio Menschen in eines der 27 EU-Länder, je 1,7 Mio von ausserhalb und von innerhalb der EU. 2,7 Mio Menschen verliessen in der gleichen Periode eines der EU-Länder. Während sich in Deutschland 2012 knapp 600’000 Immigranten niederliessen (in Italien 355’800, Frankreich 327’400 und Spanien 304’000), summierten sich die Immigranten in diesen Ländern auf 5 bis 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. Deutlich mehr waren es in Malta, Liechtenstein, Island und Norwegen – sowie in der Schweiz. Noch anders sieht das Bild bekanntlich in Luxemburg aus (vgl. Grafik). Die „Ameisenstrassen“ sind statistisch erfasst und lassen am ökonomischen Sinn dieser Wanderungen zweifeln. Vergleicht man die Zahlen der Personen mit Migrationshintergrund, stellt sich das Bild nochmals anders dar: Heute beträgt der Anteil der im Ausland Geborenen an der Bevölkerung in der Schweiz 27,7%, in den USA 13%, in Deutschland 13,3%, England 11,9%, Frankreich 11,9% und Italien 9,4%. Beliebtestes Einwanderungsland für Ost-Europäer war übrigens Deutschland: 23% aller Migranten liessen sich 2012 in Deutschland nieder, 13% jeweils in Italien und in England. Ganze 2,8% der europäischen Wanderer zog es im selben Jahr in die Schweiz, viele davon kamen aus Deutschland, womit die Emigranten aus dem nördlichen Nachbarland die Schweiz zu ihrem Lieblingszielland erkoren. Nettoleistung nachgewiesen„In Sozialstaaten ist es nicht nur der Lohn, der zur Migration anregt, sondern auch die weiteren Leistungen, die ein Zuwanderer erwarten darf.“ Mit diesen Worten kam Prof. Sinn auf die Kehrseite der Migrations-Medaille zu sprechen. Der Markt verteile die Einkommen nach Grenzprodukten, auf dem sozialen Auge sei er indessen blind. Im Vergleich zur Schweiz sei Deutschland der ausgeprägtere Sozialstaat und daher für Immigranten besonders attraktiv, die nicht gerade zu den Hochqualifizierten zählen. Tragen diese dennoch zur Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt bei oder profitieren sie vor allem? Die Frage wird für Deutschland empirisch mit Ja beantwortet. Analysen der Bertelsmann Stiftung (Bonin 2014) und des ifo Instituts von Prof. Sinn kommen zum Resultat, dass ein eingewanderter Arbeitnehmer pro Jahr 3300 bis über 4000 Euro mehr in die deutschen Staatskassen zahlt als er daraus bezieht. Je besser die Ausbildung, desto höher sei der Betrag. Heimatland- statt WohnsitzlandprinzipEuropa will die freie Migration. Europa will aber auch den Sozialstaat und es kennt das Inklusions- oder Wohnsitzlandprinzip, gemäss dem ein Immigrant – sollte er bedürftig werden - vom Gastland versorgt wird, sobald er von diesem aufgenommen worden ist. Für Prof. Sinn sind diese drei Ziele indes nicht kompatibel. Sie schliessen sich aus. Um das Problem zu beheben, fordert er für ganz Europa dem Wechsel vom Wohnsitzlandprinzip zum Heimatlandprinzip, gemäss dem Emigranten von ihrem Heimatland nach deren Gesetzgebung unterstützt werden, sollten sie in der Fremde auf Sozialhilfe angewiesen sein. „Das Heimatlandprinzip ist das einzige, das mit der freien Migration kompatibel ist“, gibt Sinn zu bedenken. „Ansonsten werde es zur Erosion des deutschen Sozialstaats kommen.“ Die Sorgen sind nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass die Sozialleistungen in Deutschland durchaus das Zwei- bis Dreifache des Durchschnittlohns in Rumänien oder Bulgarien betragen können, ohne dass vorher irgendwelche Beiträge oder Steuern in Deutschland hätten gezahlt werden müssen. Diese Einschränkungen sollten allerdings nur für die steuerfinanzierte Sozialleistungen gelten. Für solche, die man sich selbst erarbeitet habe, solle nach wie vor das Inklusionsprinzip gelten.
12.03.2015 | Autor
Jörg Naumann
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