Industrie
Im deutschsprachigen Raum – und nur hier – ist der Begriff «Industrie 4.0» allgegenwärtig. Viele Industrieprozesse werden mit diesem Schlagwort in Verbindung gebracht. «Industrie 4.0» steht für eine neue, angeblich revolutionäre Industrieepoche. Mit Industrie 4.0 wird im Wesentlichen eine unternehmerische Zukunftssicherung suggeriert. Dann fragt es sich aber, was mit Unternehmen geschieht, welche die neue Ausrichtung nicht oder noch nicht befolgen? Sind diese dann wie ein veraltetes PC-Programm out – sprich nicht mehr up-to-date, weil sie noch die Variante 3.0 oder sogar 2.0 nutzen? Wenn schon die Variantenbezeichnung ʺ4.0ʺ besteht – wie in der IT-Welt für Programme und Systeme üblich – müsste es ja auch Vorgänger geben. Ich, der Autor dieses Beitrags, mag mich als Techniker und Industriefachmann aber nicht an eine wissenschaftlich und/oder geschichtlich belegte Industrieklassifizierung oder Ähnliches erinnern. Und so geht es vermutlich vielen anderen auch. Aber das Schlagwort «Industrie 4.0» verkauft sich äusserst gut – auch ohne genau zu wissen, was dahinter steckt, wer damit angesprochen ist. Ein Grund mehr, hier ein bisschen Aufklärung zu treiben – zumindest für Schweizer, aber auch viele andere Wirtschaftsinteressenten. Die Bezeichnung «Industrie 4.0» …
…soll gemäss einigen deutschen Initianten eine ʹvierte industrielle Revolutionʹ zum Ausdruck bringen. Der Begriff wurde erstmals 2011 zur Hannovermesse in die Öffentlichkeit getragen. Auf Initiative der deutschen Bundesregierung haben einige Experten nämlich 2009 die ʺNationale Roadmap Embedded Systemsʺ vorgelegt, welche auf die Neuausrichtung der Forschung für die Bereiche Produktion, Dienstleistung und Arbeitsgestaltung abzielte. Doch erst gegen Ende 2012 wurden der deutschen Bundesregierung Umsetzungsempfehlungen vom so genannten ʺArbeitskreis Industrie 4.0ʺ – eine Promotorengruppe einer deutschen Forschungsgemeinschaft unter Vorsitz von Siegfried Dais, Robert Bosch GmbH, und Prof. Dr. Henning Kagermann von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech), München, übergeben. Zwei Jahre später – auf der Hannovermesse 2013 – wurde dann der Abschlussbericht dieses Arbeitskreises offiziell publiziert. Gleichzeitig nahm die von den drei deutschen Branchenverbänden ʺBitkomʺ (das Sprachrohr der IT-, Telekommunikations- und Neue-Medien-Branche), ʺVDMAʺ (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagen-Hersteller) und ʺZVEIʺ (Zentralverband der Elektrotechnik und Elektronik-Industrie) eingerichtete Plattform «Industrie 4.0» ihre Arbeit auf, um die Aktivitäten in dem Zukunftsfeld zu koordinieren. ʺIndustrie 4.0ʺ ist also ein Zukunftsprojekt und Strategie-Fahrplan der deutschen Bundesregierung, mit dem vor allem die Informatisierung der klassischen Industrien, wie z.B. der Produktions- und Fertigungstechnik, vorangetrieben werden soll. Das Ziel ist die intelligente Fabrik – die so genannte Smart Factory – die sich durch Ressourceneffizienz, Flexibilität und ergonomischer Arbeitsplatzgestaltung sowie die Integration von Kunden und Geschäftspartnern in allen Wertschöpfungsprozessen auszeichnet. Technologische Grundlage sind u.a. Cyber-physische Systeme und das schon vor einigen Jahren propagierte ʺInternet der Dingeʺ. Und warum formulierte man den Fahrplan mit ʺ4.0ʺ? Die Arbeitsgruppen zum Thema Industrie 4.0 definierten die erste industrielle Revolution mit der Mechanisierung mittels Wasser- und Dampfkraft. Die Epoche der Massenfertigung mit Hilfe von Fliessbändern und elektrischer Energie kreisten sie als zweite industrielle Revolution ein. Als die Informatik Mitte des 20. Jahrhunderts Fuss fasste wurde nach Einteilungsplan der Erfinder des Industrie 4.0-Projektes die dritte, sprich IT-integrierte Industrialisierung eingeläutet. Durch den jetzt vermehrten Einsatz von Elektronik und IT zur weiteren Automatisierung der Produktion sowie der immer weiterschreitenden Vernetzung der Industrien und bei allen weltweiten Marktplayern titulieren die genannten Arbeitsgruppen nun als die vierte Industrie-Phase bzw. industrielle Revolution. Die Einteilungen sind also rein pragmatischer Natur ohne jegliche scharfe Abgrenzung voneinander. Denn die definierten Phasen beruhen auf Weiterentwicklungen mit modernsten Technologien. Soviel zu Entstehung des Schlagwortes, das heute als prägnante Marketing-Phrase überall einen wichtigen Zuordnungsstandard widerspiegelt – oder widerspiegeln soll. Was sind Bausteine des Strategie-Fahrplans? Das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 ist mit wichtigen technologie-, wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Standortperspektiven verbunden.
Neuartige Geschäftsmodelle und erhebliche Optimierungspotenziale in Produktion und Logistik gilt es zu erschliessen. Hinzu kommen neue Dienstleistungen für wichtige Anwendungsbereiche, wie die in der Hightech-Strategie identifizierten Bedarfsfelder Mobilität, Gesundheit sowie Klima und Energie. Durch das Internet getrieben wachsen reale und virtuelle Welt immer weiter zu einem ʺInternet der Dingeʺ zusammen. Kennzeichen der zukünftigen Form der Industrieproduktion sind dafür - die starke Individualisierung der Produkte unter den Bedingungen einer hoch flexibilisierten (Serien-) Produktion,- die weitgehende Integration von Kunden und Geschäftspartnern in neue Wertschöpfungsprozesse- und die Verkopplung von Produktion und hochwertigen Dienstleitungen, die in so genannten hybriden Produkten mündet.Bei den Themen ʺEmbedded Systemsʺ und ʺInternet der Dingeʺ ist man in Deutschland vor ein paar Jahren aktiv geworden: Ergebnisse erfolgreicher Initiativen wie - digitales Produktgedächtnis,- wandelbare Logistiksysteme,- Autonomik,- NextGenerationMediaund Exzellenzclustern wie - integrative Produktionstechnik für Hochlohnländer- und Kognition für technische Systemesind hier die Triebkräfte. Auf dem Gebiet der (Software-intensiven) eingebetteten Systeme haben sich starke Wirtschaftsnationen – vor allem die deutsche – eine führende Stellung erarbeitet. Eine immer grössere Bedeutung erlangen dabei die so genannten Cyber-Physical-Systems (CPS), d.h. die Vernetzung von eingebetteten IKT-Systemen untereinander und mit dem Internet. Zusätzlich zur stärkeren Automatisierung in der Industrie ist die Entwicklung intelligenterer Monitoring- und autonomer Entscheidungsprozesse relevant, um Unternehmen und ganze Wertschöpfungsnetzwerke in nahezu Echtzeit steuern und optimieren zu können. Beim Thema ʺSmart Factoryʺ liegen die Schwerpunkte auf intelligenten Produktionssystemen und -verfahren sowie auf der Realisierung verteilter und vernetzter Produktionsstätten. Parallel dazu werden innerhalb des Zukunftsprojektes strategische Fördermassnahmen im ʺInternet der Dingeʺ auf neue Industrieprojekte ausgerichtet. Unter der Überschrift ʺSmart Productionʺ werden u. a. die unternehmensübergreifende Produktionslogistik, die Mensch-Maschine-Interaktion und 3D in industriellen Anwendungen noch stärker in den Fokus genommen. Die enge Einbindung kleiner und mittlerer Unternehmen als Anbieter wie Anwender von ʹsmartenʹ Produktionsmethoden ist hierbei von zentraler Bedeutung. Wo bzw. wie findet das Projekt «Industrie 4.0» Anwendung? Nach der jetzt bereits weitgehenden betriebenen Informatisierung der Industrien läutet der Einzug des ʺInternets der Dinge & Diensteʺ jetzt eine neue, noch komplexere Industrieausrichtung ein. Unternehmen sind bereits dabei, ihre Maschinen, Lagersysteme und Betriebsmittel als Cyber-Physical Systems (CPS) weltweit zu vernetzen. Diese Systeme/Massnahmen umfassen intelligente Maschinen, Lagersysteme und Betriebsmittel, die eigenständig Informationen austauschen, Aktionen auslösen und sich gegenseitig selbstständig steuern. So lassen sich industrielle Prozesse in der Produktion, dem Engineering, der Materialverwendung sowie des Lieferketten- und Lebenszyklusmanagements grundlegend verbessern. In den neu entstehenden Smart Factories herrscht eine völlig neue Produktionslogik: Die intelligenten Produkte sind eindeutig identifizierbar, jederzeit lokalisierbar und kennen ihre Historie, ihren aktuellen Zustand sowie alternative Wege zum Zielzustand.
Die eingebetteten Produktionssysteme sind vertikal mit betriebswirtschaftlichen Prozessen innerhalb von Fabriken und Unternehmen vernetzt und horizontal zu verteilten, in Echtzeit steuerbaren Wertschöpfungs-Netzwerken verknüpft – von der Bestellung bis zur Ausgangslogistik. Gleichzeitig ermöglichen und erfordern sie ein durchgängiges Engineering über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Das Potenzial von «Industrie 4.0» ist immens: Die Smart Factory kann individuelle Kundenwünsche berücksichtigen und selbst Einzelstücke rentabel produzieren. Zudem sind Geschäfts- und Engineering-Prozesse dynamisch gestaltet, d.h. die Produktion kann kurzfristig verändert werden und flexibel auf Störungen und Ausfälle, z.B. von Zulieferern, reagieren. Die Produktion ist durchgängig transparent und ermöglicht optimale Entscheidungen. Durch die Initiativen für «Industrie 4.0» entstehen neue Formen von Wertschöpfung und neuartige Geschäftsmodelle. Gerade für Start-ups und kleine Unternehmen bietet sich hier die Chance, nachgelagerte Dienstleistungen zu entwickeln und anzubieten. Darüber hinaus leistet die Neuausrichtung einen Beitrag zur Bewältigung aktueller Herausforderungen wie Ressourcen- und Energieeffizienz, urbane Produktion und demografischer Wandel. Damit die Transformation der industriellen Produktion hin zu «Industrie 4.0» gelingt, sollte die Wirtschaft eine duale Strategie verfolgen: Gemäss dem Strategie-Fahrplan soll die deutsche Ausrüsterindustrie weiterhin führend auf dem Weltmarkt bleiben. Das kann sie nur, indem sie durch das konsequente Zusammenführen der Informations- und Kommunikationstechnologie mit ihren klassischen Hochtechnologieansätzen zum Leitanbieter für intelligente Produktionstechnologien wird, meinen die Initianten des Projekts «Industrie 4.0». Gleichzeitig gilt es, neue Leitmärkte für CPS-Technologien und -Produkte zu gestalten und zu bedienen. Um diese Ziele der dualen CPS-Strategie zu erreichen, sind folgende Charakteristika von Industrie 4.0 zu verwirklichen: • horizontale Integration über Wertschöpfungsnetzwerke,• digitale Durchgängigkeit des Engineerings über die gesamte Wertschöpfungskette,• vertikale Integration und• vernetzte Produktionssysteme.
Der Weg zur «Industrie 4.0» … … erfordert enorme Anstrengungen in Forschung und Entwicklung. Um die duale Strategie umsetzen zu können, besteht Forschungsbedarf zu der horizontalen und vertikalen Integration von Produktionssystemen sowie zur Durchgängigkeit des Engineerings. Neben Forschung und Entwicklung müssen für die Umsetzung von Industrie 4.0 auch industriepolitische und industrielle Entscheidungen getroffen werden. Der ʺArbeitskreis Industrie 4.0ʺ sieht deshalb Handlungsbedarf in den folgenden acht wichtigen Handlungsfeldern: • Standardisierung und Referenzarchitektur: Industrie 4.0 bedeutet die firmenübergreifende Vernetzung und Integration über Wertschöpfungsnetzwerke. Diese kollaborative Zusammenarbeit wird nur mit Hilfe gemeinsamer, einheitlicher Standards gelingen. Für deren technische Beschreibung und Umsetzung ist eine Referenzarchitektur notwendig. • Beherrschung komplexer Systeme: Produkte und Produktionssysteme werden immer komplexer. Adäquate Planungs- und Erklärungsmodelle sind eine Basis, um die zunehmende Komplexität zu beherrschen. • Flächendeckende Breitbandinfrastruktur:Eine grundlegende Voraussetzung für Industrie 4.0 sind ausfallsichere, flächendeckende Kommunikationsnetze hoher Qualität. Die Breitband-Internet-Infrastruktur muss daher massiv ausgebaut werden. • Ressourceneffizienz: In Industrie 4.0 lassen sich Ressourcenproduktivität und -effizienz steigern. Trade-offs zwischen dem Zusatzeinsatz an Ressourcen durch die Smart Factory und Einsparpotenzialen müssen dazu ermittelt werden. • Arbeitsorganisation und -gestaltung:Die Rolle der Beschäftigten erfährt in der Smart Factory einen erheblichen Wandel. Die zunehmende Echtzeit-orientierte Steuerung verändert Arbeitsinhalte, -prozesse und -umgebungen. Damit werden Chancen für eine stärkere Eigenverantwortung und Selbstentfaltung der Arbeitnehmenden verwirklicht. • Sicherheit:Die Betriebs- und Angriffssicherheit sind in den intelligenten Produktionssystemen erfolgskritische Faktoren. Zum einen sollen von den Produktionsanlagen und Produkten keine Gefahren für Menschen und Umgebung ausgehen; zum anderen müssen die Anlagen und Produkte selbst vor Missbrauch und unbefugtem Zugriff geschützt werden – insbesondere die darin enthaltenen Daten und Informationen. • Aus- und Weiterbildung: Die Aufgaben- und Kompetenzprofile der Mitarbeitenden werden sich in Industrie 4.0 stark verändern. Das macht adäquate Qualifizierungsstrategien und eine lernförderliche Arbeitsorganisation notwendig, die lebensbegleitendes Lernen und eine arbeitsplatznahe Weiterbildung bedingen. • Rechtliche Rahmenbedingungen:Die neuen Produktionsprozesse und horizontalen Geschäftsnetzwerke in Industrie 4.0 müssen rechtskonform gestaltet und fortgebildet werden. Zu den Herausforderungen zählen der Schutz von Unternehmensdaten, Haftungsfragen, der Umgang mit personenbezogenen Daten und Handelsbeschränkungen. Gefragt ist nicht nur der Gesetzgeber, sondern vor allem die Wirtschaft: Leitfäden, Musterverträge und -betriebsvereinbarungen oder Selbstregulierungen wie Audits und vieles mehr sind geeignete Instrumente.Fazit Der Weg zu «Industrie 4.0» ist in der Tat ein evolutionärer Prozess. Vorhandene Basistechnologien und Erfahrungen müssen an die Besonderheiten der Produktionstechnik angepasst werden sowie gleichzeitig innovative Lösungen für neue Standorte und neue Märkte erforscht werden. Die Umsetzung des Strategie-Fahrplans Industrie 4.0 ist deshalb auch für viele globale, industrialisierte Marktwirtschaften – so auch der schweizerischen – von Bedeutung. Infolge der breit gefächerten Forschungstätigkeiten in Deutschland sowie mit dem starken Maschinen- und Anlagenbau sowie der in ihrer Konzentration weltweit beachteten IT-Kompetenz, aber auch mit dem Know-how bei eingebetteten Systemen und in der Automatisierungstechnik verfügt Deutschland über gute Voraussetzungen, um seine führende Position in der Produktionstechnik auszubauen, und das Potenzial in einer neuen Form der Industrialisierung zu erschliessen: mit «Industrie 4.0». Quelle:Deutsches Bundesministerium für Bildung und Forschung, Berlin, http://www.bmbf.de/
18.05.2014 | Autor
Hans Joachim Behrend
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