13 Jahre Personenfreizügigkeit

Die positiven Seiten überwiegen

In den letzten Jahren verzeichnete die Schweiz eine im internationalen Vergleich starke Nettozuwanderung. Auch 2014 fiel der Wanderungssaldo mit 73‘000 Personen - 50‘600 davon stammten aus dem EU-Raum - erneut hoch aus. Während die EU seit Ausbruch der letzten Wirtschaftskrise eine Phase regional stark divergierender Wirtschaftsentwicklung durchlief, hatte die Schweizer Wirtschaft eine vergleichsweise gute Wachstumsperformance und eine stabile Arbeitsmarktentwicklung vorzuweisen. Die Zuwanderung im Rahmen der Personenfreizügigkeit hat dabei das Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum hierzulande genährt. Besondere Herausforderungen stellten sich vor allem in den Grenzregionen der lateinischen Schweiz, wo zu einer starken Zuwanderung von Arbeitskräften ein bedeutender Zuwachs der Grenzgängerbeschäftigung hinzukam. Das zeigt der 11. Bericht des Observatoriums zum Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU.

Die Erkenntnisse des von mehreren Bundesämtern* erarbeiteten Berichts sind nicht überraschend und verweisen auch auf Risiken und Fehlentwicklungen, die die Personenfreizügigkeit im Schlepptau hat. Aber die Vorteile haben bislang überwogen.Dazu Staatssekretärin M.-G. Ineichen-Fleisch, Direktorin des SECO: "Die Bedeutung des Abkommens für das Wirtschaftswachstum werden wir nie exakt kennen. Aus mittlerweile einer ganzen Reihe empirischer Untersuchungen wissen wir aber, dass die Personenfreizügigkeit als Kernstück der bilateralen Verträge mit der EU einen gewichtigen Teil dazu beigetragen hat, dass wir heute da stehen, wo wir stehen: Der erleichterte Zugang zum Arbeitskräftepotenzial in der EU hat den Fachkräftemangel entschärft und damit den Schweizer Unternehmen ermöglicht, Wachstumschancen konsequent zu nutzen. Gleichzeitig haben die Zuwanderer selbst Konsumnachfrage entfaltet und so die Binnenkonjunktur gestützt. Das Zusammenspiel dieser Mechanismen hat über die letzten Jahre die Schaffung von zahlreichen Arbeitsplätzen ermöglicht: Seit Inkrafttreten des FZA ist die Zahl der Erwerbstätigen in der Schweiz um rund 700‘000 gestiegen. 275‘000 der zusätzlichen Erwerbstätigen waren Schweizerinnen und Schweizer."    

Nettozuwanderung aus dem EU-Raum; Seco 2015  
Verschiebungen der Herkunftsregionen; Seco 23015  
Wachsende Disparitäten in Europa; seco 2015  
Wachstum und Zuwanderung; seco 2015  
Entwicklung Arbeitslosigkeit:seco 2015  
   

Verschiedene exogene Einflussfaktoren

Die in der Schweiz kritisch verfolgten Migrationsströme wurden in den vergangenen Jahren wesentlich von einer regional stark divergierenden Wirtschaftsentwicklung innerhalb Europas geprägt. Während etwa Italien und Spanien aufgrund ihrer schwachen Wirtschaftsentwicklung als Zielländer für Migrantinnen und Migranten aus anderen EU-Staaten an Attraktivität einbüssten und selber wieder steigende Auswanderungsraten verzeichneten, wies Deutschland in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg der Zuwanderung - insbesondere aus Osteuropa - auf. Diese ungleiche Wirtschaftsentwicklung innerhalb Europas spiegelt sich auch in der Zuwanderung in die Schweiz. So stieg der Wanderungssaldo von Personen aus Portugal, Italien und Spanien von 13‘500 im Jahr 2008 auf 22‘300 im Jahr 2014. Eine Zunahme des Saldos von 4‘600 auf 10‘500 war im gleichen Zeitraum infolge der schrittweisen Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes auch gegenüber den zehn osteuropäischen EU-Staaten festzustellen. Demgegenüber verringerte sich die Nettozuwanderung aus Deutschland von 29‘000 auf 6‘800. Dieser markante Rückgang des Wanderungssaldos gegenüber Deutschland sei aber nicht auf eine Zunahme der Abwanderungen – diese blieben in etwa konstant – sondern auf einen starken Rückgang der Bruttoeinwanderungen zurückzuführen, stellte Boris Zürcher, Leiter der Direktion für Arbeit des SECO, dazu fest. Insgesamt belief sich der internationale Wanderungssaldo 2014 auf 73‘000 Personen, wovon 50‘600 aus EU/EFTA-Staaten stammten. Gegenüber dem Vorjahr ging die Nettozuwanderung von EU/EFTA-Staatsangehörigen um rund 25% zurück und kam damit leicht unter dem Durchschnitt der letzten sechs Jahre zu liegen.

Positiver Einfluss auf die Beschäftigung 

Die Zuwanderung aus dem EU-Raum ist in erster Linie als Arbeitsmigration zu verstehen. 2014 gingen über 60% der an EU/EFTA-Bürger ausgestellten Bewilligungen an Zuwanderer, die zum Zweck der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in die Schweiz einreisten. Zwischen 2003 und 2014 stieg der Anteil von EU27/EFTA-Zuwanderern an den Erwerbstätigen unter Berücksichtigung von Grenzgängern und Kurzaufenthaltern schweizweit um 6 Prozentpunkte auf 23% an. Im europäischen Vergleich hatte in den letzten Jahren einzig Luxemburg eine noch stärkere Zunahme des Erwerbstätigenanteils von EU27/EFTA-Zuwanderern zu verzeichnen. Einen besonders starken Beschäftigungszuwachs konnten EU/EFTA-Staatsangehörige im Gesundheits- und Sozialwesen sowie im Bereich der freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen verzeichnen, beides Bereiche in denen auch Schweizer/innen ihre Erwerbstätigkeit ausbauen konnten. Ausgeprägt war der Beschäftigungszuwachs von EU/EFTA-Zuwanderern ferner in der Industrie, im Handel und im Baugewerbe. 

Gute Qualifikationsstruktur der Zuwanderer

Die Qualifikationsstruktur der zugewanderten Arbeitskräfte hat sich trotz veränderten Herkunftsregionen kaum verändert. Auch unter den kürzlich zugewanderten Erwerbstätigen aus der EU/EFTA lag der Anteil an Personen mit tertiärem Bildungsabschluss bei über 50% und damit deutlich höher als in der ansässigen Erwerbsbevölkerung. Die Erwerbstätigkeit von EU/EFTA-Staatsangehörigen nahm zudem auch in den letzten Jahren vor allem in Berufsgruppen mit hohen Qualifikationserfordernissen zu. "In der Qualifikationsstruktur der Zuwanderer spiegelt sich die starke Nachfrage der Schweizer Wirtschaft nach hoch qualifizierten Arbeitskräften: Unter den nach Juni 2002 zugewanderten Erwerbstätigen aus dem EU-Raum verfügten deutlich über 50% über einen Abschluss auf Tertiärstufe. Auch unter den in der Nachkrisenperiode Neuzugewanderten blieb dieser Anteil hoch," hielt Boris Zürcher dazu fest. "Der Schweizer Arbeitsmarkt zieht damit auch aus den südlichen und östlichen Regionen der EU viele Hochqualifizierte an."

Segensreich sei die Einwanderung vor allem deshalb, weil es sich um eine Migration in die Schweiz handle, die das Land volkswirtschaftlich braucht. Für Roland A. Müller, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, steht fest, dass vor allem der Bedarf an Spezialisten durch das Schweizer Bildungssystem allein nicht abgedeckt werden kann. Darunter fielen nicht nur Ingenieure oder Ärzte. Der Fachkräftemangel, so Müller, sei in nahezu allen Branchen akut und betreffe das Handwerk genauso wie den Hochtechnologiesektor. Dies mache der Bericht einmal mehr deutlich. Selbstverständlich unterstütze der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) die Bemühungen des Bundes zur Förderung des Inländerpotenzials. Auch im Urteil des SAV sei es wichtig, beispielsweise den Wiedereinstieg der Frauen oder die Beschäftigung älterer Arbeitnehmender zu fördern. Aber – und dies muss gemäss Müller betont werden: "Wir wissen nicht, ob und in welchem Umfang dieses Potenzial ausgeschöpft werden kann." 

Vorwurf schlicht falsch 

Eine immer wieder diskutierte Frage ist die, ob es auf dem Arbeitsmarkt zu Verdrängungseffekten kommt. Die Antwort lässt sich aus dem Verlauf der Erwerbstätigenquote gewinnen. Würden Einheimische durch Zugewanderte ersetzt, müsste die Erwerbstätigenquote der Einheimischen sinken. Dies ist indessen nicht der Fall. Sowohl Schweizerinnen und Schweizer als auch EU/EFTA-Staatsangehörige konnten ihre Erwerbstätigenquote zwischen 2003 und 2014 steigern. Zum Verdrängungsvorwurf hat der SAV-Direktor eine dezidierte Meinung: "Der immer wieder kolportierte Vorwurf, die Unternehmen bevorzugten ausländische Arbeitskräfte, ist schlicht falsch." So zeige die im Bericht erwähnte Studie der BAK Basel, dass trotz des grossen Gewichts des Fachkräftemangels explizite Rekrutierungsanstrengungen im Ausland sehr selten unternommen werden.

Die Erwerbslosenquote (gemäss ILO) ist in der Folge der Wirtschaftskrise in der Schweiz leicht angestiegen. Doch im EU/EFTA-Raum wies einzig Norwegen eine noch tiefere Erwerbslosenquote auf als die Schweiz. Und auch das Reallohnwachstum fiel in den Jahren 2002-2014 mit durchschnittlich 0.7% pro Jahr solide aus. Diese Stabilität ist für Boris Zürcher angesichts der erheblichen konjunkturellen Turbulenzen der letzten zwei Jahrzehnte beachtlich und spiegelt die gute Anpassungsfähigkeit des Schweizer Arbeitsmarktes.

AHV und IV profitieren

Als positives Resultat der Zuwanderung wird deren Einfluss auf die Sozialversicherungen gewertet. So hat die starke Zuwanderung der letzten Jahre die demographisch bedingte Überalterung gebremst. Das BSV hält dazu fest, dass das Umlageergebnis der AHV ohne die Beiträge der zugewanderten EU/EFTA-Staatsangehörigen bereits 2009 negativ ausgefallen wäre; ohne Zuwanderung wäre ein Defizit von 2,3 Milliarden Franken entstanden. Auch bei der IV haben sich die Befürchtungen, wonach die Personenfreizügigkeit zu einer Zunahme ausländischer IV-Leistungsbezüger führen könnte, nicht bewahrheitet. Tatsächlich war die Entwicklung der Rentnerzuwachsrate seit 2002 für alle Nationa-litäten-Gruppen rückläufig. Boris Zürcher erläutert diese Resultate wie folgt: "Zwar haben Ausländer/innen in der Schweiz ein höheres Arbeitslosigkeitsrisiko als Schweizer/innen und sind auch öfters auf Leistungen der Sozialhilfe angewiesen. Hierin spiegeln sich jedoch vor allem die Schwierigkeiten bezüglich der Erwerbsintegration früherer Zuwanderergenerationen, die vom Strukturwandel der Wirtschaft in den vergangenen Jahren kaum zu profitieren vermochten." Aktuelle empirische Resultate zeigten indes, dass Sozialleistungsbezüge unter den Neuzugewanderten selten sind. Weiterführende Erkenntnisse zur Thematik seien von einer Studie zu erwarten, im Herbst 2015 publiziert werden soll. 

Herausgeforderte Grenzregionen

Trotz der insgesamt erfreulichen Arbeitsmarktentwicklung wird nicht ausgeschlossen, dass sich die Konkurrenz für die Ansässigen durch ausländische Arbeitskräfte in einzelnen Regionen und Arbeitsmarktsegmenten verstärkt hat. Besonderen Herausforderungen sahen sich in den letzten Jahren etwa die Grenzregionen in der lateinischen Schweiz gegenüber, in denen zusätzlich zur stärkeren Zuwanderung auch ein deutlicher Anstieg der Grenzgängerbeschäftigung zu verzeichnen war. Mit der Aufwertung des Schweizer Frankens gegenüber dem Euro hat der Anreiz zur Aufnahme einer Beschäftigung in der Schweiz für Personen aus den Nachbarländern noch zugenommen. Im Tessin sind heute mehr als ein Viertel, in Basel-Stadt und Genf je knapp ein Fünftel aller Erwerbstätigen Grenzgänger/innen. Im Gesamtbild verschiedener Arbeitsmarktindikatoren spiegeln sich etwa in der Lohnentwicklung oder im Verlauf der Erwerbslosenquoten gemäss ILO gewisse regionale Muster, die mit der regional unterschiedlich ausgeprägten Zunahme ausländischer Arbeitskräfte in Zusammenhang stehen könnten. In der Regel sind die regionalen Unterschiede allerdings klein und können auch durch andere Faktoren mitbeeinflusst sein.

* Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO), Staatssekretariat für Migration (SEM), Bundesamt für Statistik (BFS), Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) 

Zur Studie

Quelle: Seco, Bern  

24.06.2015 | Autor Jörg Naumann

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