Energie-Innovation

«Ein Trafo könnte ein Multifunktionstool werden»

Welches sind die Herausforderungen für den Betrieb von Niederspannungsnetzen, welche die Einspeisung von elektrischem Strom aus Photovoltaikanlagen mit sich bringen? Prof. Dr. Nicola Schulz geht im Interview den möglichen Lösungsansätzen auf den Grund.

o-mag: Wie präsentiert sich aktuell die Situation bei den Niederspannungsnetzen in der Schweiz?

NICOLA SCHULZ: Aktuell herrscht im überwiegenden Teil der Niederspannungsnetze noch der «klassische» Betrieb vor, nämlich die kontinuierliche Versorgung aus den höheren Netzebenen mit nur einer Richtung des Leistungsflusses. Es treten, zwar noch vereinzelt, jedoch in zunehmendem Masse, Fälle auf, in denen sich die Richtung aufgrund der Einspeisung aus Photovoltaik-Anlagen umkehrt, d.h. es fliesst Leistung aus dem Niederspannungs- in das Mittelspannungsnetz. Dies ist insbesondere im Sommer der Fall, wenn alle PV-Anlagen gleichzeitig eine hohe Leistung einspeisen und zur selben Zeit, beispielsweise wegen Abwesenheit der Anwohner, der Verbrauch gering ist. 

Es entstehen somit neue Herausforderungen für das Niederspannungsnetz. Welches sind die Folgen dieser neuen Situation mit einem bidirektionalen Stromfluss?

Abhängig von den lokalen Begebenheiten können in dem betreffenden Netz bei einer Umkehrung des Leistungsflusses eine unzulässig hohe Spannung auftreten, oder die Betriebsmittel, also Leitungen oder Trafo, durch zu hohen Stromfluss überlastet werden. Eine geringe Anzahl von PV-Anlagen im Netzgebiet ist sicher unproblematisch. Wenn bei einer grösseren Anlagenzahl Situationen mit Rückspeisung auftreten, kann die Netzspannung durch eine von den PV- Wechselrichtern bereit gestellte kapazitive Blindleistung reduziert werden. Handelsübliche Wechselrichter sind hierzu in der Lage. Allerdings wird durch die zusätzliche Einspeisung von Blindleistung die Scheinleistung erhöht und damit auch die Belastung der Zuleitung. Früher oder später stösst das Netz also auch hier an seine Grenzen. Wenn im Rückspeisefall die Betriebsmittel durch zu hohen Strom überlastet sind, wird normalerweise die Einspeiseleistung der Solaranlagen gedrosselt. Da dies nicht im Interesse der Anlagenbesitzer ist, müssen für die Zukunft alternative Lösungen gefunden werden.

Grundsätzlich sollte der Netzbetreiber wissen, welche PV-Leistung sich in seinen Verteilnetzen ohne weitere Massnahmen installieren lässt, und ob jeweils der Strom oder die Spannung die limitierende Grösse ist. Bei PV- Zubauten über diese Grenze hinaus können dann entsprechende Massnahmen getroffen werden.

Wie reagieren Technikerinnen und Techniker in Industrie, Forschung und Lehre? Muss das Stromnetz und seine Hierarchie von Grund auf neu überdacht werden?

Nach der Schweizer Energiestrategie 2050 soll die Photovoltaik-Kapazität stark zugebaut werden, ein grosser Anteil davon in den Niederspannungsnetzen. Zentrale grössere Erzeugungskapazitäten, hauptsächlich Wasserkraft, bleiben und werden ausgebaut. Diese Marschrichtung sowie die Einbettung in das europäische Verbundnetz, bedeuten, dass man grundlegende Regelungsarten, wie die Leistungs-Frequenz-Regelung, beibehält.

Aber je mehr Photovoltaik- und Windkraftanlagen im Netz installiert sind, umso grösser wird der Aufwand, um deren fluktuierende Einspeisecharakteristik mit dem Verbrauch in Einklang zu bringen. Rein physisch bedarf es hier zunächst enormer Kapazitäten an Kurzzeit- sowie saisonalen Energiespeichern.

Zusätzlich zu den Speichern wird in Zukunft mehr Intelligenz im Stromnetz erforderlich sein. Da sich die Stromerzeugung dann nicht mehr nach dem Verbrauch richtet, sondern der umgekehrte Fall vorliegen wird, müssen elektrische Speicher und Verbraucher - sofern möglich und sinnvoll - ihren Leistungsbezug zeitlich an die Erzeugung anpassen. Gleichzeitig muss der Betrieb des Stromnetzes weiter stabil erfolgen: Spannungen, Frequenz und Leistungsflüsse müssen innerhalb des zulässigen Rahmens bleiben.

Hier sind neue Regelungskonzepte gefragt, an denen weltweit intensiv geforscht wird. Wie eine gesamthafte Regelung des Stromnetzes bei massiver Integration von fluktuierenden Erzeugungsanlagen aussehen könnte, ist derzeit noch unklar. Es wird auf jeden Fall zentrale Regelungselemente geben, sowie auch dezentrale. Deren optimale Gewichtung und sinnvolle Anwendungsbereiche müssen noch herausgefunden werden. Eine weitere Rolle werden Gleichspannungssysteme spielen. Einerseits wird die Hochspannungs-Gleichstrom- Übertragung für die verlustarme Übertragung grosser Leistungen über lange Distanzen in Europa benötigt, andererseits könnten auch lokale Gleichspannungsnetze interessant werden. Mit ihrer Hilfe könnten sich Photovoltaikanlagen, Akkuspeicher oder Elektrofahrzeuge effizienter ans lokale Stromnetz anbinden lassen.

Wie verändern sich Schutzkonzepte und die Selektivität?

Photovoltaik-Wechselrichter sind wenig problematisch, da ihre Leistungselektronik Kurzschlussströme begrenzt und die Wechselrichter sich automatisch abschalten, wenn die Netzspannung, beispielsweise bei einer Trafoabschaltung, unter einen Schwellwert abfällt.

Wenn sich andererseits sehr viele Photovoltaikanlagen in einem Niederspannungsnetz befinden, könnten sich die Wechselrichter bei einer Trafoabschaltung gegenseitig ein «Netz» vorspiegeln und es besteht das Risiko einer Inselnetzbildung. Dieses Problem, das aktuell nicht akut ist, kann in Zukunft durch eine höhere Intelligenz der Wechselrichter unterbunden werden.

Anders als Photovoltaikanlagen verhalten sich Blockheizkraftwerke mit Synchron- oder Asynchrongenerator am Netz. Diese besitzen eine erheblich höhere Kurzschlussleistung, so dass ihre Absicherung gegebenenfalls angepasst werden müsste, beispielsweise mit einer kürzeren Auslösezeit.

Welche Strategien stehen bei der Speicherung im Vordergrund?

Um die Überlastung eines Niederspannungsnetzes durch zu hohen Strom zu vermeiden, ohne die Leistung der PV-Anlage zu drosseln, könnte die PV-Anlage einen Speicher aufladen. Rein technisch eignen sich Akkuspeicher hierfür am besten. Die erforderliche Speicherkapazität müsste je nach Situation ermittelt werden. Sollte ein grosser Akkuspeicher erforderlich sein, stellt sich aufgrund der hohen Kosten allerdings die Frage nach der Wirtschaftlichkeit.

Eine andere Methode ist das Lastmanagement: Hier kann ein elektrischer Verbraucher, zum Beispiel eine Wärmepumpe, dann eingeschaltet werden, wenn (zu) viel Photovoltaik-Einspeisung vorliegt, und zu einem späteren Zeitpunkt bleibt sie aus. Die Energie wird dann in Form von Wärme in der Substanz des Gebäudes gespeichert. Der Vorteil dieses Konzepts ist, dass thermische Speicher, wie Gebäude oder Warmwasserspeicher, schon vorhanden und nur geringe Investitionen erforderlich sind. Der Nachteil ist, dass bei thermischer Zwischenspeicherung kein Strom ins Netz zurückgespeist werden kann, daher auch die Bezeichnung "virtueller Speicher". Daher könnte eine Kombination aus realen und virtuellen Speichern vielversprechend sein.

Wie wichtig ist bei diesen Szenarien die geographische Komponente? Ist es ratsam, generierten Strom möglichst innerhalb desselben Niederspannungsnetzes zu verbrachen?

Durch die fluktuierende Einspeisecharakteristik von Photovoltaik- und Windkraftanlagen ergibt sich zwangsläufig der Bedarf nach Speichern. Bei einem grossen, zentralen Speicher würde bei Sonnenschein ein sehr hoher Leistungsfluss aus den Niederspannungsnetzen zu diesem Speicher erfolgen. Da alle PV-Anlagen gleichzeitig ins Netz einspeisen, kann die zu übertragende Leistung ein Vielfaches der Übertragungskapazität sein. Das Stromnetz wäre hoffnungslos überlastet.

Deshalb muss ein guter Teil des lokal erzeugten Stroms auch lokal verbraucht oder zwischengespeichert werden. Welche Speicherkapazitäten zentral, und welche Kapazitäten lokal technisch und wirtschaftlich sinnvoll sind, ist Gegenstand aktueller Untersuchungen.

Welche konkreten Lösungsvorschläge erarbeiten Sie an der Hochschule für Technik?

Wir arbeiten an verschiedenen Aspekten in diesem Themenbereich. Beispielsweise haben wir Konzepte entwickelt, wie sich Photovoltaik-Wechselrichter gezielt ansteuern lassen, um Niederspannungsnetze zu stabil zu halten. Weiterhin arbeiten wir an einem Software-Tool, mit dem ein Netzbetreiber auf einfache Weise herausfinden kann, wie viel Photovoltaik sein Netz verträgt und welche Massnahmen er ergreifen kann, um die installierbare PV-Leistung ohne Netzausbau zu maximieren.

Seit mehreren Jahren und auch aktuell befassen wir uns mit dem Thema Lastmanagement bzw. virtuellen Speichern. Welche Geräte lassen sich am besten für Lastmanagement nutzen? Welche Kommunikation ist erforderlich? Ausgehend von solchen Fragestellungen beschäftigen wir uns momentan mit konkreten Anwendungen von Lastmanagement. Hier spielen insbesondere wirtschaftliche Vorteile eine Rolle, die man mit einem zeitlich flexibleren Stromverbrauch erlangen kann.

In einem weiteren Forschungsprojekt untersuchen wir, wie sich sogenannte leistungselektronische Trafos dazu nutzen lassen, um Niederspannungsnetze sowie auch grössere Netzgebiete stabil zu betreiben. Diese Trafos können auf ihren Eingangs- und Ausgangsseiten alle elektrischen Parameter, wie Spannung, Frequenz und Phasenwinkel, dynamisch regeln. Weiterhin besteht die Möglichkeit, direkt Gleichspannungssysteme anzukoppeln. Aufgrund dieser Eigenschaften wäre solch ein Trafo ein «Multifunktionstool», das zur Netzstabilität, zur gezielten Verteilung der Energie, sowie zu einer höheren Effizienz in Übertragung und Verteilung beitragen kann.

Wie weit sind solche Projekte von der Marktreife entfernt?

Die Regelung der Wechselrichter und das Lastmanagement sind prinzipiell bereit für die Anwendung in der Praxis. Lastmanagement als solches wird auch schon seit vielen Jahren praktiziert. Aktuell geht es um die weitere Verfeinerung der Verfahren und um die Vernetzung von vielen Einzelverbrauchern zu intelligenten Systemen.

Der leistungselektronische Trafo ist noch einige Jahre von der Marktreife entfernt. Die Technologie als solche ist sicher bereit. In unserem Projekt «Swiss Transformer» werden nun innovative Konzepte entwickelt, so dass diese Trafos nicht nur technisch, sondern auch wirtschaftlich interessant werden.

Welches wird künftig der Beitrag des Niederspannungsnetzes an die allgemeine Netzstabilität sein?

Der Beitrag der Niederspannungsnetze wird sicher gross sein, da hier schliesslich ein grosser Teil der Energieerzeugung stattfinden wird. Insbesondere leistungselektronische Systeme, wie Photovoltaik- Wechselrichter und leistungselektronische Trafos, werden in Kombination mit virtuellen und realen Speichern durch ihr intelligentes Verhalten zur Netzstabilität beitragen.

 

Kontakt:

Prof. Dr. Nicola Schulz Fachhochschule Nordwestschweiz Hochschule für Technik 

Institut für Aerosol- und Sensortechnik Klosterzelgstrasse 2

5210 Windisch

T +41 56 202 77 33 (Zentrale)

nicola.schulz@fhnw.ch http://www.fhnw.ch/personen/nicola-schulz

13.03.2015 | Autor Eugen Rieser

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